Kamerun

Der richtige Sitzplatz im Bus – Eine Gebrauchsanweisung

Selten ist der Mensch solch einer Fülle an Entscheidungsmöglichkeiten konfrontiert. Noch seltener verspürt er dabei auch noch einen derartigen Zeitdruck, die günstigste all dieser Entscheidungen ausfindig zu machen und nach ihr zu handeln. Die Rede ist von der Platzwahl zu Beginn einer mehrstündigen Busreise. Die Auswirkungen der zu treffenden Entscheidung sind weder banal noch absehbar und selbst eine mehrstündige taktische Vorbereitung kann den Protagonisten nur unzureichend für die bevorstehende Drucksituation wappnen.

Das Problem beginnt schon in der Theorie, man denke nur an all die Streitereien zwischen schlecht gelaunten Busfahrergelehrten, die sich in ihren vielen Binsenweisheiten selbst widersprechen. Wie passen „Ein Platz am Gang lässt Beine lang“ und „Sei ein Gangster, sitz am Fenster“ zusammen? Was nimmt der gemeine Fahrgast aus diesem Ratschlag-Salat aus diesem verwucherten Unkraut mit ins praktische Leben? Zugegeben, bisher haben die Gelehrten noch keine geeignete Plattform für die Ausarbeitung eines standardisierten Lehrbuches gefunden. Alle Gespräche wurden bisher einzig allein im Vorbeifahren zweier Busse mit Handzeichen in Sekundenschnelle ausgetragen. Doch es ist auch die etablierte akademische Welt, die dieser Geisteswissenschaft jeglichen Zutritt in den seriösen gesellschaftlichen Diskurs verweigert. Als einer der zig Millionen täglichen Passagiere auf dieser Welt, die nicht im Elfenbeinbus forschen, sondern regelmäßig Feldstudien betreiben, möchte ich mit meiner Praxisnähe Pionierarbeit leisten und damit den Weg zur Beantwortung folgender Forschungsfrage ebnen: „Wie wähle ich beim Hereintreten in einen Reisebus den richtigen Sitzplatz für mich aus?“

Der Busbahnhof in Bafoussam

Fangen wir mit dem Einstieg an. Hier stellt sich uns bereits die Frage, ob wir den Bus am Anfang besteigen, wenn sich zwar eine große Auswahl verfügbarer Plätze bietet, jedoch nicht beeinflusst werden kann, wer sich nach der Sitzplatzwahl neben einen setzt. Ein späterer Einstieg hingegen birgt die genau gegenteiligen Effekte: kleine Auswahl, große Sitznachbarsicherheit. Einmal eingetreten stellt sich dann folgende Frage: Vorne oder hinten? Die Frage ist unbedingt unter den jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen zu betrachten. In Ländern mit Gurtpflicht und geringem Unfallrisiko kann der Platz vorne Übelkeit vorbeugen und zum Aufbau einer später vielleicht wichtigen sozialen Beziehung mit dem Fahrer verhelfen. Ohne Gurt und Fahrsicherheit jedoch krallen sich die Fußnägel bei jedem Überholmanöver panisch in die Schuhsohlen und man fliegt im Falle eines Unfalls als Erstes durch die Frontscheibe. Und selbst wenn man dann mit zerdatschtem Gesicht auf dem Asphalt liegt, könnte man je nach landesüblicher Sitte noch das nervig hochfrequente Radio des Busfahrers hören. Vorderplätze bieten also erhebliche Risiken.

Die Attraktivität hinterer Plätze wiederum hängt stark vom Restpublikum ab. Im Falle einer mitreisenden Schulklasse ist die letzte Bank, die sonst durch hohen Liegekomfort besticht, unbedingt zu vermeiden. Auch sollte nach Bestimmung des Fahrtwinds (oft Gegenwind) nie die Position der Bordtoilette außer acht gelassen werden. Sedes non Grata ist besonders der Platz direkt vor der Bordtoilette, denn er vereint gleich drei Übel: Unangenehme Geruchserfahrungen, Lärmbelästigung durch die zuschlagende Tür und einen Sitz, der der Fähigkeit, sich durch Knopfdruck in die Schräge zu begeben beraubt wurde.

Gut geparkt in die Mittagspause

Sind die ungefähren geographischen Koordinaten des Aufenthalts ausgemacht, stellt sich das klassischste aller Rätsel, dem sich viele Unerfahrene leider als erstes und einziges stellen: Fenster oder Gang? Es ist und bleibt eine Charakterfrage: Sind Sie Träumer oder Realist? Die Lösung kann gerne individuell verschieden ausfallen. Sind wir mit einem weiteren Fahrgast unterwegs, empfiehlt es sich, um Streitigkeiten vorzubeugen, diesen komplementär auszuwählen (in Fachkreisen das „Yin und Yang Axiom“). Auch physische Merkmale sind zu berücksichtigen. Lange Beine und breites Kreuz deuten auf eine Platzwahl am Gang hin, doch diese Wahl kann wiederum die vorher getroffene Entscheidung verwerfen, denn will man wirklich einen Gangplatz nah an der Bordtür? Sie sind selbstverständlich zu vermeiden, da zu viele vorbeilaufende Menschen mitsamt ins Gesicht gepresster Hinterteile. Außerdem sitzt es sich am Fenster ruhiger, denn es gibt keinen Sitznachbarn, dem man ständig den Weg zur Snackbar freimachen muss. Doch möchten wir beim Beantworten all dieser Fragen unseren Blick auch auf die Sterne richten: Können wir welche sehen? Dann haben wir einen Grund weniger für den Fensterplatz. Hiernach entscheidet sich auch die Auswahl der richtigen Seite: Nehmen wir die beißend blendende Sonne dafür in Kauf, dass wir die Gepäckausgabe des Busses stets im Sichtbereich unseres wachen Adlerauges haben? Auch hier müssen Sie Ihren ganz eigenen Stil, ihre persönliche Handschrift finden.

Jedes Modell eine andere Baureihe…wer blickt da noch durch?

Die zwei Grundfesten auf dem Weg zur Weisheit wurden in den vorherigen Absätzen hauchzart gestreift und man bekommt das Gefühl, je mehr man weiß, desto schwieriger die Entscheidung. Ist da nicht selbst der Zufall ein besserer Ratgeber? Mitnichten! Böses dem, dessen Denkorgan fähig ist, so falsch zu denken! Es gibt eindeutige Faustregeln, die jeder Dilettant sofort in die Tat umsetzen kann! Ja, sie gibt es! Durchsuchen wir den Bus als Erstes auf tropfende Klimaanlagen, fehlende Kopflehnen, aufgekratzte Sitzflächen oder Lautsprecherpositionierungen. Danach möchten wir bierbäuchige Männer oder vollbusigen Damen hinter uns vermeiden, denn diese Gruppe Menschen beschweren sich als Erste, wenn man den eigenen Sitz auch nur einen Grad nach hinten lehnt. Gleiches gilt beim Blick nach vorne: Müde, Kranke, Alte (allgemein Sterbende) waren schon immer Mahnmähler ihres eigenen, nach hinten gelehnten Lebensstils. Natürlich fällt der instinktive Blick auch auf die Verteilung der im Raum anwesenden Kinder. Hier hilft eine simple Anwendung der im Erstsemester erlernten Chaostheorie: Gruppen von Kindern schreien seltener als einzelne Kinder, es sei denn, es handelt sich um Geschwister. Es empfiehlt sich Busverspätungen zu nutzen und schon auf dem Bussteig Menschengruppen nach ihren familiären Abhängigkeiten befragen. Es wird unsere Entscheidungsfindung später bei Weitem erleichtern.

Nächster Eintrag: Wie wählt man den richtigen Motoman?

Zu guter Letzt müssen wir uns als Fahrgast wohl immer bewusst machen, wie gering unsere Macht im hiesigen rollenden Universum wirklich ist. Wie sollen wir in Bruchteilen einer Sekunde beurteilen, wann welcher Fahrgast aussteigen wird. Sicherlich können hier Sitzhaltung und „Schuhe aus“ oder „Schuhe an“ viel über die Intentionen unserer Mitreisenden verraten. Doch wer steigt dann zu? Wir bräuchten Kameras an jeglichen Haltestellen sowie etliche Datenanalysten. Einem wird schnell klar, dass dies aufgrund der momentanen globalen Lieferkettenprobleme und der angestrengten Lage auf dem Arbeitsmarkt kaum möglich sein wird. 

Bedenken Sie bitte bei all diesem perfektionistischen Ehrgeiz um den paradisischsten Sitz, dass der gute Ton es dem Sitzplatzkavalier verbietet, eine getroffene Entscheidung zu korrigieren. Auch auf etwaige Streitereien um fehlende Gepäckstücke oder das Verstellen der Belüftungsanlage durch den Sitznachbarn begegnen wir stets mit stoischer Würde. Durch das Ertragen unseres Schicksals wird sich der begangene Fehler tief in unserem Gedächtnis einprägen und unsere kognitiven Fertigkeiten langfristig verbessern. Ganz nebenbei ernten wir von Mitreisenden Respekt und Anerkennung für das Erdulden dieser wenig komfortablen Busreise.

Wie sieht die Zukunft der Busreisen aus?

Was bleibt also zu tun? Busfahrer werden wäre eine Idee. Sonst möchten Sie vielleicht auch einmal einen Güterbus ausprobieren, diese gewinnen seit geraumer Zeit an Beliebtheit bei Passagieren. Auch die Gepäckablagen oberhalb der Sitze bieten ungeahnten Reisekomfort für schlanke Liebhaber der Horizontalen. Und wenn alles nichts hilft: Zurücklehnen und hoffen, dass der Sitz mitmacht.

Wohinnoch? ist ein Reiseblog, in dem wir mit ausgiebig Zeit die weniger beachteten Orte dieser Welt besuchen.

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