Mexiko

Adiós México- der Abschied

Der Himmel weint, als die riesige Maschine auf die Startbahn zurollt. Der Höhepunkt des sich seit Wochen hinziehenden Abschieds ist erreicht, nun erstreckt sich unter mir diese monströse Stadt, in der ich vor fast genau zwölf Monaten landete. Während des Starts sehe ich Millionen von kleinen Lichtern immer kleiner werden und schließlich unter einer dicken Wolkendecke verschwinden.

Die Natur als Spiegel der Seele. Eine in der Literatur häufig aufgegriffene Idee, um die Gefühle, die rübergebracht werden sollen, noch zu intensivieren. Fühle ich mich also traurig? Bin ich niedergeschlagen? Erstaunlicherweise nicht. Ich freue mich nämlich genauso wie vor einem Jahr auf das vor mir Liegende. Dazu kommt, dass ich meinen Abschied ja bereits angefangen hatte, auf Raten abzubezahlen und im Verlauf mehr als eines Monats mich von all den Dingen, bei denen ich es für nötig hielt, verabschieden konnte.

Genaugenommen begann alles am letzten Schultag, es muss der 22. Juni gewesen sein, wenn mich nicht alles täuscht. Bis 10:30 Uhr lief der Freitag eigentlich wie jeder andere auch, einziger Unterschied: die Schüler waren berechtigt ohne Schuluniform zur Schule zu kommen. Bedeutet: kein Sportzeug. Dementsprechend wurde der Sportunterricht auch nicht zu intensiv gestaltet. Gefühlt schienen die 9. Klässler vom Unterricht befreit zu sein, denn sie liefen die ganze Zeit mit alten Schuluniformen umher, um sich von allen möglich Freunden und Bekannten etwas Nettes darauf schreiben zu lassen. Mich fragte man häufig, ob ich nicht irgendwas auf Deutsch schreiben könne, es brauche auch keinen Sinn zu ergeben. Gut möglich, dass bei einem Ex-Schüler jetzt das schöne Wort Kartoffelbrei das Shirt ziert.

Gegen 10:30 Uhr war ich dann zu einem Abschiedsessen in meiner dritten Klasse geladen worden. Vom Prinzip her lief es genauso ab, wie meine Klasse es damals von der siebten bis zur zehnten Klasse zelebriert hat, wenn wir keine Lust auf Unterricht hatten. Es wurde sich spontan kurzgeschlossen, wer was mitbringe und dann richteten wir den Klassenraum so her, dass der Lehrkraft gar nichts anderes mehr übrig blieb, als zu akzeptieren, dass man nur essen und reden würde. Natürlich hatten die Schüler die Organisation größtenteils den Eltern überlassen, das Ergebnis war dem unsrigen von früher jedoch sehr ähnlich. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes standen allerlei Speisen und Getränke, von denen wir reichlich zu uns nahmen.

Die Stimmung war die ganze Zeit irgendwo zwischen fröhlich und traurig. Die Frau des Konsuls, die wegen der Arbeit ihres Mannes ebenfalls die Schule verließ und Englisch unterrichtet hatte, und ich wurden immer wieder gefragt, warum wir denn nur gehen müssten, es wäre doch viel schöner, blieben wir einfach da. Die ganz große Verabschiedung sollte ja noch folgen.

Erst einmal war ich zur Cosecha eingeladen worden. Dabei handelte es sich um eine Gruppenaktivität der die Schule verlassenden Schüler, bei der sie die Chance hatten, jeder anwesenden Person, die sie dabeihaben wollten, etwas mitzugeben, egal, ob es um Dank oder Entschuldigungen ging. Eingeladen waren so ziemlich alle Lehrer, die sie im Verlauf ihrer Zeit in der Secundaria unterrichtet hatten. Derjenige, der sprechen wollte, stand auf, trat aus dem Stuhlkreis hervor, nahm eine Bohne und brachte diese der Person, der seine Botschaft galt. Somit wurde mit jeder Bohne eine Botschaft übermittelt. Cosecha bedeutet übersetzt soviel wie Ernte.

Um es vorweg zu nehmen, selten erlebte ich so viele offen gezeigte Emotionen. Nur ganz wenige Augen blieben trocken, es sind tatsächlich ausgesprochen schöne Dinge gesagt worden. Mich hat dieses Spektakel sehr mitgenommen und ein Mal musste auch ich mir eine feuchte Stelle im Augenwinkel trocknen. Besonders begeistert hat mich die Fähigkeit zu emotionaler Offenheit, die ich in dieser Ausgeprägtheit noch nie erleben durfte. Beeindruckend war für mich die Schön- und Offenheit der Worte, ohne dass sie kitschig gewesen wären. Besonders die Jungs waren dazu bereit, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Auch die Lehrer nahmen an diesem alljährlichen Ritual unter Tränen teil. So dankbar ich für die Einladung auch war, so sehr überforderte mich diese Fülle an Liebe, Dankbarkeit und positiver Energie doch auch. Niemals hätte ich mir vergleichbares während meiner Schulzeit in unserem Klassenverbund vorstellen können und auch heute, mit gewissem Abstand bin ich dazu nicht in der Lage. Mit Sicherheit wäre es bei uns spätestens an den zu coolen Jungs gescheitert. Abgesehen davon war unser Verhältnis zueinander vollkommen anders, bestimmt auch, weil Loyola nicht so anonym ist und die wenigen Schüler neun Jahre lang in der gleichen Konstellation zusammenhocken.

Der schwerste Moment lag aber noch vor mir. Nach der Cosecha war der Schultag schon so gut wie vorbei und es versammelten sich alle Schüler im Hof zu einigen letzten Ansprachen. Die Schulleitung verabschiedete Schüler und Lehrer, die ihren letzten Tag hatten. Und plötzlich wurde ich gebeten, noch einige abschließende Worte an die Schule zu richten. Ehrlich gesagt wusste ich aber gar nicht, was ich hätte sagen sollen und so bedankte ich mich nur artig für alles. Und dann wurde die Welt um mich herum schwarz. Denn erst ein Grundschüler, dann zwei und schließlich über zwanzig stürzten sich auf sich, um mir tschüss zu sagen. Es muss wohl so wie der Jubel beim Fußball, bei dem der Torschütze von Mitspielern begraben wird, ausgesehen, haben. Überwiegend waren es Drittklässler, die nun auf mir lagen, in einigen Augen entdeckte ich Tränen.

Kurzerhand entschlossen wir uns, im Klassenraum noch ein weiteres Klassenfoto zum Abschied zu machen. Meine kleine Lieblingsschülerin war vollkommen aufgelöst. Zu ihr hatte ich ein besonders gutes Verhältnis, zeitweise fühlte es sich an, als sei sie meine kleine Schwester. Vielleicht zeigte mir mein Verstand auf diese Weise, wie sehr ich meine richtige kleine Schwester das Jahr lang vermisst habe. Jedenfalls brach mir der Anblick der weinenden Kleinen mein dunkles Herz. Auf dem Foto, das ich aufgrund mangelnder Einverständniserklärungen nicht veröffentlichen werde, hatte ich sie dann auf meinem Arm und sie drückte sich fest an mich. Bis spät abends kämpfte ich immer wieder mit den Tränen. Um all diese Erlebnisse an diesem Tag zu verarbeiten brauchte ich auf jeden Fall einige Tage.

Ein weiterer für mich besonderer Moment, bevor ich die Schule verließ, war ein kurzes Gespräch, dass ich mit dem amerikanischen Konsul führte. In diesem versicherte er mir, dass er viel Gutes von mir gehört hätte und sich freue, mich schließlich auch persönlich kennen lernen zu können. Sowohl seine Frau als auch seine Söhne, mit denen ich Unterricht hatte, hatten eine ganze Menge positiver Dinge über mich berichtet und er bedankte sich bei mir für die Hilfe, die ich seiner Frau einmal wöchentlich war. Meinem Ego schmeichelte das Gespräch ziemlich und mit Stolz verabschiedete ich mich von ihm und ihr.

Verabschiedet hatte ich damit allerdings erst von den Schülern. Den meisten zumindest, eine sah ich eine Woche später zur Zeugnisvergabe wieder, das Event an sich verdient jedoch keiner weiteren Beachtung. Zum Helfen und Aufräumen ging ich eine weitere Woche in die Schule. Meinen letzten Tag dort hatte ich dann an jenem Tag, an dem Mexiko gegen Brasilien verlor. Zum Abschied überreichte man mir als Erinnerung eine Uhr, auf deren Ziffernblatt das Wappen der Schule gedruckt ist. Ich fühlte mich sehr dankbar. Während sich alle Lehrer für meine Hilfe bedankten war ich verwirrt, da ich mich auch bedanken wollte, immerhin war mir ein ereignisreiches und besonders lehrreiches Jahr ermöglicht worden.

Noch in der gleichen Woche flog ich nach Mexiko-Stadt zum Abschluss-Camp von AFS. Auch diese Veranstaltung ist es eigentlich nicht wert, weiter besprochen zu werden. Nur merkte ich, dass ich froh sein konnte, noch einen weiteren Monat in Mexiko zu haben, denn für diejenigen, die bereits unmittelbar danach ihre Rückreise antraten, stand der schmerzhafte Abschied unmittelbar bevor und für mir wäre er an deren Stelle überstürzt vorgekommen. Doch vorbei ist vorbei, und niemand wird es je wieder zurückbringen können.

So hatte ich also noch einen Monat Zeit. Diesen verbrachte ich zu großen Teilen auf der Halbinsel Yucatán. Mit meiner Mutter und meinem Stiefvater, die zum ersten Mal die Reise über das große Wasser angetreten hatten, bereiste ich die sehenswerten Ruinen und Städte der Halbinsel, außerdem zeigte ich ihnen Mérida. Wo ich gewohnt, gegessen und gewartet habe. Ein Besuch bei meinen Gasteltern stand natürlich ebenfalls auf dem Programm. Irgendwo zwischen Deutsch, Englisch und Spanisch trafen wir uns. Abschließend spannten wir am Meer aus.

Am Flughafen tauschte ich dann Familienteil eins gegen Familienteil Nummer zwei, mein Vater etc. waren gekommen und auch ihnen zeigte ich mein Mérida. Und wieder stand ein Besuch bei meinen Gasteltern an. Doch diesmal hieß es für uns am Ende Abschied nehmen für einen längeren Zeitraum zumindest. Ich bin dieser Familie zutiefst zu Dank verpflichtet. Sie haben mich, ohne mich überhaupt zu kennen, bei sich zu Hause aufgenommen, akzeptiert. Sie haben mir ein unvergessliches Jahr ermöglicht, sie haben mir eine andere Welt gezeigt.

Verlassen haben wir Mérida per Flugzeug. Ich fand es einen guten Abschluss, auf dem selben Weg wieder zu gehen, auf dem ich auch gekommen war. Und ehe ich mich versah, saß ich bereits im nächsten Flieger. Diesmal geht´s in Richtung Frankfurt. Zufällig in der selben Maschine sitzende Mitfreiwillige sind teilweise emotional komplett aufgewühlt, anders als ich. Mexiko unter mir ist nicht mehr auszumachen.

 

 

Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei all den treuen Lesern bedanken, die mir ein Jahr lang die Treue gehalten haben. Danke, dass Ihr mich begleitet habt. Ich hoffe, wir lesen uns irgendwann wieder!

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