100 Minuten allein
100 Minuten allein. Nein, heute schreibe ich nicht, über einen, dank indischem Essen, besonders langen Aufenthalt auf der Toilette. Nach der Busfahrt in das Inland der Region „Kerala“, geht es Lucas noch ein bisschen schlecht, weswegen er sich im Zimmer unserer Unterkunft ausruhen will. Ich, vom schlechten Gewissen geplagt, ziehe meine Schuhe an, packe die Regenjacke ein und bin – das fällt mir erst richtig auf, als ich meinen Fuß aus der Tür setze – das erste Mal allein in Indien unterwegs.
Nur ich und mein deutscher Rucksack. Da die Inder aber leidenschaftliche Sandalenträger sind (ohne Socken) fühle ich mich aber gar nicht so fremd. Den Stand, an dem wir bisher immer blicklos vorbeigegangen sind, nutze ich, um mich mit einer Banane zu stärken. Muss die Banane innen so orange…? Mit dem Ziel das Örtchen kennen zu lernen, schnuppere ich in einige Läden hinein und laufe die wenigen Straßen Kumilys ab. Bis auf eine Kirche werde ich hier von wenigen Sachen überrascht, doch ich entschließe mich, ein wenig weiter zu gehen.
Ich entdecke eine leicht ansteigende Straße. Nach ein paar Metern baut sich vor mir ein offensichtliches Verbotszeichen auf. Darunter eine für mich nicht lesbare Schrift. Ich bilde mir ein, dass auf dem Schild „HALT! Kein Passieren mit schlechter Laune!“ oder „Eintritt nur mit Passierschein A38!“ steht. Mit breiten Grinsen und Passierschein im Kopf lasse ich das Schild hinter mir zurück. Die Geräusche der Hauptstraße werden leiser und ich sehe links und rechts vereinzelte Häuser. Oft grüßen mich Kinder und irgendwann kommt es wie es kommen musste, wenn man interessiert guckt: Man wird angesprochen. Ein Mann erklärt mir gerne einiges über seine Heimat und pflückt mit mir sogar ein paar Kaffeebohnen, die am Wegesrand wachsen. Unbedingt will er, dass ich nicht nur ihn, sondern auch ihn und sein Motorrad fotografiere! Er ist total stolz über das verwackelte Resultat und ich biete ihm an das Foto zu senden. Über Umwege schaffen wir das auch irgendwie und ich verabschiede mich nach einer guten Weile.
Nach einigen Metern jedoch kehre ich, aufgrund des Regens, wieder um. Als ich zur Hauptstraße zurückkehre, hat der Regen auch schon wieder aufgehört. Auf dem Weg nach Hause sprechen mich weitere zwei Leute an, einer davon berichtet mir stolz, er habe bei einem deutschen Film mitgespielt – Wunderlebenskraft, oder so. Nach natürlich nicht exakt 100 Minuten (das klingt nur besser), bin ich wieder zurück im Zimmer.
Ich werde später nach der Reise einen Eintrag über den Unterschied zwischen Alleine-Reisen und Zusammen-Reisen schreiben. Doch ich kann schon jetzt sagen, dass es wesentlich einfacher war mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Man sieht hilfloser und weniger bedrohlich und ist dazu auch noch nicht in ein Gespräch verwickelt. Zwar bin ich das „allein sein“ schon durch vorherige Reisen gewohnt, nur konnte ich dieses Mal genau den Vergleich ziehen, wie sehr sich die Situation verändert!
Der nächste Tag:
Heute geht es Lucas wieder besser und wir machen uns auf den Weg in Richtung Nationalpark. Hier, direkt neben Kumily, liegt ein riesiges, größtenteils bewaldetes Gebiet. Um die 30 Tiger, nunja, tigern hier frei herum, dazu Bären, Elefanten, Büffel, Affen und…wir. Zusammen mit einem Guide setzen wir mit einem aus Bambus und Seilen gemachten Floß über, auf das andere Ufer. Ab jetzt kann nur noch unser 1,55 Meter großer Guide auf uns aufpassen.
Die Chance einen Tiger zu sehen ist aufgrund dieses gewaltigen Gebiets schon sehr gering – zumal die Raubtiere vor uns genauso viel Angst haben, wie wir vor ihnen. Ohnehin konzentrieren wir uns beim Laufen eher auf die Geräusche der Affen. Hoch oben in den Baumkronen sitzen sie – in den Baumkronen, die dafür verantwortlich sind, dass wir endlich mal wieder so richtig durchatmen können! All der Smog der indischen Großstädte scheint nie da gewesen zu sein. Bächlein schlängeln sich bildhaft schön die Landschaft entlang und die einzigen Brücken sind ein paar, über die Strömung gelegte Äste.
Wir verlassen den Wald und betreten eine matschige Graslandschaft. Jede Pflanze strahlt zurzeit im kräftigsten grün und so kann sich auch der Elefant, mit seiner grauen, ledrigen Haut nicht vor unseren Blicken schützen. Erst sieht unser Guide nur ein Baumrascheln, ein paar Meter weiter aber sehen wir dann aus 100 Meter Entfernung den riesigen Körper des Dickhäuters. Doch wir haben Unglück im Glück, denn der Ottifant macht auch nach 10 Minuten keine Anstalt sich uns auch nur ansatzweise zu nähern.
Wir stapfen weiter. Unser Guide immer ein paar Schritte voraus. An uns vorbei laufen immer wieder einheimische Fischer, die den frischen Karpfen vom See in die Stadt transportieren. Mittlerweile ist der große Stausee sogar schon in unserer Sichtweite. Regelmäßig ragen tote Bäume aus dem Wasser heraus – die letzten Überbleibsel des Waldes, der mal da stand, wo jetzt das Wasser ist. Am See drehen wir um und gehen zurück zu dem Floß. Die drei Stunden im Urwald waren sehr anstrengend, jedoch wunderschön.
Unser Ausflug war zwar noch nicht zu Ende, jedoch war die Bootstour, die wir danach gemacht haben nicht sonderlich erwähnenswert. Viel zu weit weg vom Ufer ist man gefahren, um wirklich Tiere sehen zu können und an der Landschaft hat man sich nach einer Stunde dann auch irgendwann satt gesehen.
Liebe Grüße,
euer André

