Indikatives Zeitverständnis Teil 1: Douala, die Stadt am Meer
Ich mache eine Liste. Ab jetzt mache ich eine Liste. Nur so kann ich nachverfolgen, wie viel Zeit ich während meines Aufenthalts in Kamerun mit reinem Warten verbracht habe. Nur zur Orientierung: Als ich in einem deutschen Podcast hörte, 30 Minuten Wartezeit wären eine Zumutung, brach ich in schallendes Gelächter aus. Ich lachte nicht aus Unverständnis für diese mir sehr plausibel erscheinende Einordnung. Ich lachte aus reiner Verzweiflung. 30 Minuten sind der Himmel auf Erden, wer braucht da noch das Paradies? Heute geht es um meine persönliche Hölle, das „indikative Zeitverständnis“.
Der Blog beginnt mit einem typischen Mittwochmorgen – es gab Haferflockenmüsli zum Frühstück und meine seit zwei Wochen leer geglaubte Zahnpastatube gab weiterhin ihre für immer verschwunden geglaubten Geheimnisse preis. Der Nachmittag sah schon ganz anders aus. Ich saß das erste Mal in Afrika in einem Zug, der mich ohne Staus und ohne bereits mental einkalkulierte Pannen in die Atlantikmetropole Douala beförderte.


Mein Reisegrund war die Hochzeit einer Kollegin, in deren WG ich in gut zwei Wochen einziehen werde, schließlich wird sie auch nach der Hochzeit, ganz für Kameruner untypisch, nicht mit ihrem Ehemann zusammenziehen. Mit im Gepäck hatte ich meine Gitarre und die freudige Erwartung auf der Hochzeit die Braut bei ihrem Gesang zu begleiten. Solch eine Chance im goldrichtigen Moment zu reißen, kriegen meine in die Jahre gekommenen Gitarrensaiten nie wieder und auch ich war zum Bersten gespannt.


Die Stadt am Meer, das klingt nach warm umwehten Strandpromenaden und Aperol bei Sonnenuntergang. Doch nicht mit Kamerun. Douala, die größte Stadt des Landes, bildet das ökonomische und kulturelle Zentrum. Am bis vor Kurzem größten Hafen des Landes lagern das Tropenholz, der Kakao, die Bananen, das Öl zur Ausreise. Im Zentrum ziehen Motorradtaxis dünne, geschwungene Linien zwischen den dicht gedrängten Märkten. Und am Abend ballern Afrobeats aus jeder Bar, egal ob sich dort gerade ein ekstatischer Tanzmob tummelt, oder ob sich schon seit Stunden kein einziger der wenigen Gäste vom Plastikstuhl erhoben hat.
Eine Flugzeugturbine ist laut, Kamerun ist lauter, Douala ist Kamerun mal Flugzeugturbine. Krach wird mit Krach bekämpft. Will heißen, wer im Auto laut Musik hört, muss wohl oder übel schreien, um sich vernehmbar zu machen. Schließlich erscheint eine nach links ausgerichtete Drehbewegung des Lautstärkerads aufgrund der Hitze als komplett irrsinnig. Kein Wunder aber, denn wer hier aufwächst teilt sich das Zimmer mit mindestens drei weiteren Geschwistern; Privatsphäre ade, Ruhe R.I.P.. Kaum vorstellbar, dass man die Hochzeit eher verlässt, nur weil man sein zweijähriges Kind als Entourage hat. Schließlich kann man auch bei flimmerndem Diskolicht schlafen und nach einer Stunde wird laut einer dänischen Studie jeder Beat zum White-Noise.




Die Tage vor der Hochzeit war ich diesem Spektakel ununterbrochen ausgesetzt. Meine Chefin ließ mich in ihre Kindheitsorte eintreten. Da ist ihr erstes zuhause bei ihrer leiblichen Mutter, ein Holzhaus mit Wellblechdach. Hier verbringen nun ihre Mutter zusammen mit ihrer Schwester und Anhang im gehobenem Alter ihren Lebensabend. Dann ihr zweites zuhause bei ihrer Ziehmutter, in einem vom Staat gebauten Apartment für 40€ im Monat, das sie aufgrund der Militärkarriere des Mannes beziehen durften. Hier konnte meine Chefin, die Inkarnation einer Workaholic, viel besser ihr Potential auf eine erfolgreiche Karriere entfalten.






Wir klapperten die Märkte ab, darunter auch den „Mboppi“ Markt, der unschuldiger klingt, als er ist. Meine Kauflaune bewegte sich dabei entgegengesetzt zur Temperaturkurve in der heißschwülen Stadt. So kauften alle außer ich fleißig für die Hochzeit ein. Die einzige Habseligkeit, die ich erstand, ging leider als wiederum Einzige verloren. Mein Tag war gerettet. Um 16 Uhr signalisierte ich: „Ich brauche eine Pause.“ Schließlich war für heute Nacht noch der Jungesellenabschied meiner Kollegin angesetzt. Nach einem „wir gehen noch kurz was Essen“ war ich vier Stunden später zuhause und sog jede Minute, die ich mich ausruhen konnte, wie ein Schwamm auf.







Einen Tag vor der Hochzeit verbrachte ich den Tag etwas näher an meiner Komfortzone, mit zwei europäischen Praktikantinnen. Unser Plan, gemütlich durch die Stadt zu schlendern, um uns die touristischen Höhepunkte anzusehen, war gleichzeitig naiv, wie verständlich, schließlich sind wir aus unserer Heimat nichts anderes gewöhnt. Unser „Spaziergang“ dauerte zehn Minuten und wir waren schon wieder umgekehrt, als uns ein Polizist anhielt, fragte was zum Teufel wir hier machten, wo wir hinwollten und warum wir nicht einfach bei ihm mitfahren würden.



Schwupps, saßen wir zu dritt auf dem einen Beifahrersitz des Polizeiwagens und wurden durch den sonst für Besucher gesperrten Industriehafen gefahren. Interessant für mich: Hier lag das ganze Holz, welches man immer wieder auf LKWs durch das Land fahren sieht. Wir wurden an unserem Wunschort, an einem ruhigen Restaurant am Deltaufer rausgelassen und bestellten das Essen. Serviert bekamen wir eine gehörige Lehrstunde in indikativer Zeitgestaltung.
Doch was ist das, indikative Zeitgestaltung? Ich möchte zunächst mit einem Beispiel beginnen: Die Aussage, dass das Essen „gleich“ fertig sei, heißt demnach, dass die Küche erst noch angeworfen und Zutaten gepflanzt werden müssen. Ein Glücksfall, wenn der Koch schon angestellt, gar geboren ist. Was will man eigentlich mehr? Indikativ bezeichnet demnach ein Verständnis von Zeit, das auf Vorschlägen ohne Verbindlichkeit beruht.


Die versprochenen Kochbananen als kleiner Appetizer vor dem richtigen Mahl waren dann auch nichts anderes als eine leere Phrase. Wir sahen, wie die Flut die Ebbe ablöste und warteten gespannt auf den tektonischen Zusammenprall Afrikas und Europas, der sich jede Minute ereignen müsste. Nach fast zwei Stunden Wartezeit bekamen wir unser lauwarmes Essen serviert. Ich „musste“ kurz darauf los, sonst wäre ich Gefahr gelaufen zu spät zu einer spontanen Probe mit dem nationalen Slam-Champion Kameruns zu kommen. Ihr merkt schon…
Der Fakt, dass ich gerade so pünktlich war – hinfällig. Schließlich wartete ich noch zwei weitere Stunden auf den Künstler, dessen Verweis auf den Regen als Entschuldigung mich nicht zufriedenstellte. Eher redete ich mir ein, der wahre Grund für seine Verspätung sei sein Beruf. Doch auch das wäre gelogen. Zeit für den Hochzeitstag, an dem auch wir etwas vortragen sollten…
Fortsetzung folgt
André, 25.05.2022 Yaoundé


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