Draußen sein in Delhi
Im von der Klimaanlage gut gekühlten Zimmer wache ich auf. Ich erhebe mich aus dem gemütlichen Bett, laufe am Fernseher vorbei ins Bad, dusche mich und nehme neue Sachen aus meinem prall gefüllten Rucksack. Im Zimmer ist es ruhig und die Geräusche von außen nehme ich nur gedämpft wahr. Ich packe meine Sachen zusammen, ziehe den Schlüssel aus einer kleinen Box und öffne meine Tür. Sofort versucht eine Wand warmer Luft mich in den Raum zurückzudrücken. Ich erwehre mich diesem Versuch und stehe im Flur der Unterkunft. Die Luftfeuchtigkeit ist höher und die ersten Drüsen auf meiner Haut öffnen ihre Luken. Ich steige die Treppe herab und begebe mich in Richtung Hotelausgang. Das gedämpfte Geräusch von außen geht langsam über zu einem klaren und vor allem lauten Treiben auf den Straßen. Ich öffne die Tür.
Auf dieses Signal haben meine Schweißdrüsen gewartet. Ich bin sofort nass. Vorher war es noch eine dünne Wand warmer Luft, die mich in den Raum zurückzudrücken versuchte – jetzt sind es eher fünf Meter dicke, undurchlässige Betonwände. Ich nehme sofort Millionen von Gerüchen wahr. Es riecht nach Schweiß und nach Parfüm, nach wilden Tieren aber auch nach Gewürzen. Mal gleichzeitig, mal abwechselnd nimmt man den sauren Geruch von Pisse und den kräutrigen Duft warmer Räucherstäbchen wahr. Den Smog der hupenden Autos, den Duft der von Händlern laut beworbenen Speisen. Ich bin in einer Nebenstraße. Kurz bevor ich auf die Hauptstraße gehe, heißt es: „Luft anhalten“, denn hier riecht es nach Scheiße. Auf der Hauptstraße kann man wieder sicherer atmen. Hier sammelt sich das Leben. Märkte, Rikschas und vor allem Menschen kreuzen meinen Weg.
Diese drei Minuten außerhalb meines Hotelzimmers, welches wie eine Energietankkapsel wirkte, haben mir mehr neue Eindrücke beschert, als ein ganzer Tag in Berlin. Ich bin, wie immer mit Lucas, auf dem Weg zum roten Fort – einer im 17. Jahrhundert gebauten Befestigungsanlage. Ein „Charity-Mitarbeiter“ erzählt uns, dass wir ohne ein richtiges Ticket, nicht den Bezirk betreten können, in dem das rote Fort steht. Anstatt uns wie versprochen zur Metrostation zu bringen, brachte er uns zu einer „Tourism-Office“. Wir verlassen das Büro ohne uns was aufquatschen zu lassen und fahren mit der Metro in die Nähe des roten Forts. Die Metro wurde erst vor ein paar Jahren eröffnet, ist sehr billig und äußerst geordnet und pünktlich. Sobald man wieder die Oberfläche betritt, bietet sich einem das Spektakel, welches ich schon beschrieben habe. Das vermeintliche Chaos ist jedoch kein komplettes Chaos – es ist ein Spiel nach anderen, uns nicht bekannten Regeln. Das Benutzen der Hupe ist kein Ausdruck von Wut, sondern oft ein Zeichen von Anwesenheit. Es tummelt und staut sich, doch es ist eben auch der Lauf der Dinge hier, der sich bei der Anzahl der Menschen, die hier leben, nicht ändern lässt.
Am nicht mit einem Foto zu erfassenden roten Fort, fragen uns zwei Deutsche, wo man die Eintrittskarten kaufen kann. Wir sagen ihnen wo und sagen, dass wir uns nicht in die lange Schlange stellen werden, weil wir Durst haben und erst mal etwas zu trinken kaufen wollen. Ihre Warnung: „Macht es nicht hier, die Händler nehmen leere Flaschen, füllen sie am Fluss auf und schließen sie dann wieder!“ Ach doof, wir haben doch Durst.
1 Stunde später.
Auf der Suche nach einem vertraulichen Ort, wo es diesen heiligen Äther namens Wasser gibt, wühlen wir uns wieder durch die 25 Millionen Einwohner, die sich hier anscheinend alle auf einmal versammelt haben. Doch dem ist nicht so. Denn genau da wo wir vor einer Stunde waren und überall anders, tummelt es sich mit großer Sicherheit genauso wie hier. Es sind einfach überall viele, sehr viele Leute auf den Straßen.
Wir finden sie wieder. So eine Kapsel – mit Klimaanlage. Da wo die Geräusche von draußen nur gedämmt wahrzunehmen sind. Wir tanken im Café wieder Energie. In der zweiten Etappe laufen wir zu einem Park, der dem indischen Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi gewidmet wurde. Zu Abend essen wir in einem Restaurant, von dem aus wir von oben herab auf eine Marktstraße schauen konnten. Steht man mittendrin, dann werden alle Sinne so extrem beansprucht. Es ist Abend und von oben wirkt das Treiben fast schon normal. Bis ein Lautsprecher gegenüber von uns damit anfängt in voller Lautstärke seine Musik zum Besten zu geben. Wir gehen ins Hotel zurück. Der Tag war anstrengend, jedoch schön. Jetzt wo man wieder in seiner Kapsel sitzt, versucht man sich das Leben da draußen bildlich vorzustellen. Es ist so nah dran, jedoch auch so weit weg.
Es ist Normalität für all die 25 Millionen Menschen dieser Stadt und wird auch so wahrgenommen. Für mich ist es anders. „Andersartigkeit“ sehen. Der Grund für diese Reise. Man muss sie nicht immer verstehen. Man muss sehen, dass sie irgendwo nicht „anders“ ist, sondern „normal“. Und unser „normal“ woanders zu „Andersartigkeit“ wird.
Entschuldigt meine Wortwahl in Teilen dieses Blogeintrags. Doch die Wörter Fäkalien oder Urin rufen nicht so viele Emotionen hervor, wie die genannten!
Liebe Grüße aus Delhi!


