Regen auf Backstein in Calais
Wie befürchtet rieselte am Morgen der Schnee leise auf die Dächer der Stadt Boulogne am Meer. Doch schon bevor ich das Haus verlasse sind die Wolken weitergezogen und ich bin optimistisch gestimmt, die Wanderung heute machen zu können. Ein Bus soll mich in eine Gemeinde kurz vor dem Cap Griz Nez fahren, doch ich muss ernüchtert feststellen, dass heute keine Busse aufgrund des Schnees die Stadt verlassen. Es gibt auch keine passende Zugverbindung, sodass ich die Tour für heute absagen muss. Stattdessen entschließe ich mich direkt nach Calais zu fahren, mit dem Gedanken, morgen, bei besserem Wetter die Strecke zum Cap laufen zu können.
Calais kam in der letzten Woche wegen einer Schießerei zwischen Flüchtlingen, die dort zahlreich auf ihre Überfahrt nach England hoffen in die Schlagzeilen. Sogar der französische Innenminister fuhr letzte Woche nach Calais, um die sich ein Bild von der Situation zu machen. Mein Gastgeber Adib aus Marokko empfängt mich zuvorkommend und gastfreundlich in meiner neuen Unterkunft. Ich durfte sogar spontan einen Tag früher kommen, und trotzdem war bereits alles für mich vorbereitet.
Leider ist es schon Nachmittag und mir bleibt nicht mehr viel Zeit heute, um mir Calais anzusehen. Drum sind meine von gestern noch relativ müden Beine auch froh, dass der Tag heute etwas ruhiger verläuft. Der immer wiederkehrende Nieselregen lässt keine Jubellaune aufkommen, aber England liegt eben auch nicht mehr allzu fern, was soll man da schon anderes erwarten? Die Hafenstadt selbst war schon mal unter englischem Besitz was sich sehr stark in der Architektur wiederspiegelt. Viele Häuser sind aus roten Backsteinen gebaut, allgemein ist alles irgendwie alles rötlich hier. Die Fußgängerwege, die Geländer und Zäune sowie die Häuser. Allen voran das rote Rathaus. Noch nie zuvor habe ich solch ein elegantes und gleichzeitig imposantes Rathaus gesehen. Der Baustil ist einzigartig, denn der große Uhrenturm ist sehr schmal, wohingegen die Turmspitze mitsamt der Uhr wieder breiter wird. Jede Ecke und jede Kante ist detailliert verziert und so betrachte ich das Bauwerk einige Minuten.
Ich darf sogar die Turmspitze besteigen und bekomme dafür auch noch einen privaten Guide zur Verfügung gestellt. Von ganz oben lässt sich die Stadt in der Charles de Gaulles geheiratet hat sehr schön überblicken. Ich sehe bis zum Cap Griz Nez, sogar weiter, bis nach England, während ich auf der anderen Seite wohl auch schon Belgien sehen kann. Mein kleiner Rundgang führt mich nicht nur zu dem Rathaus sondern auch in eine Kirche, die Einkaufsstraße, ein Theater und auch vor die englische Variante einer Notre Dame – Frauenkirche.
Während das Pariser „Original“ oder zu mindestens die bekannteste Frauenkirche in Frankreich pompös und doch sehr künstlerisch aussieht, gleicht diese britische Version eher einer Festung. Das wichtigste sind dicke Mauern und scheinbar ein Bergfried in der Mitte. Reinschauen konnte ich nicht, wäre ich doch ohnehin von den Bolzen der auf den Mauern wachenden Armbrustschützen erschossen worden. Innen hätte es dann wahrscheinlich eine Schwerterausstellung und eine Folterkammer gegeben. Daneben ein Burgshop, an dem man sich kleine Ritterfigürchen kaufen kann. Traurig heute keine Figuren kaufen zu können, um meine Sammlung zu vervollständigen, laufe ich weiter.
Langsam wird es dunkel und ich kehre in meine Unterkunft zurück. Erschöpft vom Tag werde ich wohl eine gehörige Mütze Schlaf vertragen können, um dann morgen hoffentlich zum Cap Griz Nez wandern zu können. Übrigens: Ohne, dass ich es wusste, gibt es tatsächlich auch das gestern erwähnte Cap Blanc Nez, das bis vor kurzem lediglich in meiner Fantasie existiert hat. Vielleicht werde ich ja morgen über die wahren Details zum Innenraum der Notre Dame in Calais informiert und kann dann wieder vergleichen, wie sehr es meinen heutigen Vorstellungen ähnelt. Und mit ganz viel Glück…kriege ich dann noch meine Ritterfigur.

