Indien – Antworten und Fragen über ein buntes Land
Versucht man Indien in einen dieser Kästen zu stecken, in denen wir gerne denken, muss man das Land wahrscheinlich mehr als jedes Andere verbiegen und verbeulen, damit es hineinpasst. Zu divers ist Indien in seiner Geografie und in seiner Geschichte. Hunderte Sprachen werden gesprochen, tausende Götter angebetet und unterschiedlichste Bräuche gelebt. Und doch ist es das Land selber, welches seine Bewohner in Kasten steckt, auf dass die Perspektive jedes Einzelnen lebenslang davon beeinflusst wird. Seit 1947 ist das Land erst unabhängig und damit in seiner heutigen Form. Mehr als eine Milliarde Menschen leben mittlerweile innerhalb der Grenzen Indiens. Mit der Frage im Kopf, wie diese Menschen leben, besuchte ich in einem viel zu kurzen Monat den von Trockenland geprägten Nordwesten „Rajasthan“ und den tropischen, feuchten Südwesten.
Vor allem die vielen Unterschiede zwischen beiden, zugegebenermaßen weit voneinander entfernten Regionen hat mich positiv wie negativ beeindruckt. Zwischen Rajasthan und Kerala liegen in etwas so viele Straßenkilometer wie zwischen Berlin und Istanbul und so verwundert es eigentlich nicht, dass die Gebiete historisch, geografisch und auch gesellschaftlich komplett anders gestrickt sein können.
Um einen Überblick zu gewähren sei erwähnt, dass Rajasthan lange Zeit von Moguln aus dem nahen und mittleren Osten regiert wurde. Die Natur zeigt sich mit der Wüste Thar und wenigen Regentagen von seiner trockeneren Seite, verschont sie diese Region doch fast komplett vom Monsun. Das Leben der auf dem Land lebenden hat sich hier kaum verändert. Zu unbedeutsam ist die Gegend der einst so wichtigen Seidenstraße durch Indien geworden. Etwas weiter entfernt von der Wüste ragen allerdings auch viele große Städte, mit teils mehr als einer Millionen Einwohner empor. Hier mündet das geballte Leben in einem für Westler anmutenden Verkehrschaos. Armut begegnet man hier nicht, wenn man will, sondern sobald man das Zimmer seiner Unterkunft verlässt. Zu allgegenwärtig ist die Obdachlosigkeit vieler Kastenloser und sind die Verstümmelungen der Arbeitsunfähigen.
Frequentierter als Kurven treten Kühe in der Nähe von Straßen auf. Ob man über den Marktplatz schlendert, Monumente besichtigt oder nur kurz ein um einen Taxipreis feilscht: Kühe kreuzen stets das eigene Blickfeld. Dank den reichen und pompösen Moguln mangelt es tatsächlich nicht an den genannten Monumenten und so gilt Rajasthan als eines der am häufigsten besuchten Regionen Indiens. Mächtige Forts, verzierte, prunkvolle Tempel sowie gebrochene Mauern und Tore machen schon seit Jahrhunderten auf sich aufmerksam. Da die meiste Zeit im Jahr kein Halm auf dem Boden wächst, haben sich viele, auch noch so traditionelle Einheimische dem Tourismus zugeneigt und geöffnet. Kleine Läden am Straßenrand, die Gewürze, Kleidung und Plunder verkaufen gibt es fast überall, Tuk-Tuk Fahrer sogar an jeder erdenklichen Stelle. Als Tourist braucht man Verständnis und Geduld.
Ein Spaziergang heißt sowohl Konfronation mit der einheimischen Gesellschaft als auch mit der eigenen inneren Beschaffenheit seiner selbst. Doch sind es die Einheimischen, die mit uns beim Feilschen um einen 50 Cent höheren Preis handeln, die uns als zu melkenden Geldesel betrachten, oder sind wir es, die uns bei H&M ein T-Shirt für 4,95€ kaufen, die die Inder ausbeuten? Geduld und Verständnis sind hierbei wichtig, um am Ende des Tages nicht beleidigt und vollkommen fertig mit den eigenen Nerven ins Hotelzimmer zu stampfen.
Der Staatsapparat lahmt und kann die dringend benötigten Mittel aufgrund einer riesigen Korruption im Land nicht bereitstellen. Steuern bezahlt man hier fast nirgendwo und schon gar nicht da, wo der durchschnittliche Inder seine Rupi ausgibt. 50% des Bruttosozialprodukts werden vom schwarzen Markt erfasst. Fehlende oder mangelhafte Bildungsreinrichtungen und Krankenhäuser machen das Leben der Leute nicht leichter.
Nicht jeden Bürger betreffen diese Missstände im gleichem Maße wie andere. Zwischen Bettlern laufen sowohl selbstbewusste Hotelmanager und Geschäftsführer, als auch Touristenguides oder Programmierer und Ingenieure entlang. Die Menschen leben friedlich miteinander: Ich als Tourist habe mich zu jeder Zeit sicher und nie bedroht gefühlt. Das hängt aber natürlich auch immer sehr mit den eigenen Gedanken und Emotionen zusammen.
Wie bereits angesprochen, spiegelt der Süden eine andere Seite Indiens wieder, als der Norden. Das Klima ist tropisch, Palmen wachsen wo auch immer man hinsieht. Entlang der Küste begleiten einen Strände, die in der Nebensaison allerdings nicht zum Baden einladen. Weiter ins Inland hinein wölbt sich die Erde zu vielen kleinen wie großen Bergen, die fast allesamt mit endlosen Teeplantagen betupft sind. Der klimatische Unterschied ist der auffälligste, aber nicht der stärkste. In Kerala gibt es weniger Armut. Weniger Menschen müssen auf der Straße leben, jedenfalls in den kleineren Orten dieser Region. Allgemein gibt es hier keine Millionenstädte, wie in Rajasthan. Die Gegend ist nicht die beste Einnahmequelle für den Staat, jedoch scheint es den Menschen hier besser zu gehen. Frauen treten selbstbewusster, emanzipierter auf als im Nordwesten. Die Einwohner sind weitestgehend Hindi (54,7%), doch auch viele Muslime (26,6%) und Christen (18,4%) leben in der Region. Jedoch darf man nicht verallgemeinern. Feilschenden Tuk-Tuk Fahrern und Händlern, korrupten Polizisten und Armut wird man auch hier begegnen.
Nicht viel, aber einiges kann ich sowohl über Rajasthan als auch über Kerala behaupten: Die Leute scheuen keinen Kontakt und sprechen einen gerne an. Sie erzählen gerne mehr über traditionelle Bräuche oder die Umgebung, fragen aber auch gerne nach, was man in Deutschland macht. Spannend zu verfolgen sind die unterschiedlichen aber auch gemeinsamen Feste, die jährlich zelebriert werden.
Mit Müll wird hier generell sehr fahrlässig umgegangen. Dass es keine Müllabfuhr wie in Deutschland gibt ist offensichtlich, dennoch ist es Normalität Plastikbüchsen aus dem Fenster eines fahrenden Busses zu werfen, bis sich die Kühe, die stets in Bergen des Abfalls zu finden sind, ihre Mägen an dem Müll aufblähen. Nur wohin mit dem Müll, wenn es keine Organisation gibt, die ihn entsorgt? Lediglich die Kastenlosen sieht man häufig die Straßen mit einem Reisigbesen säubern. Eine Lösung des Problems kann ich mir in naher Zukunft kaum vorstellen.
Indien konfrontierte mich häufiger mit Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Licht und Schatten, als jedes andere Land, in dem ich bisher war. Es beantwortet mir eine Frage und stellt dabei gleich zehn neue. Das Land lässt mich auch drei Monate nach der Reise fragend zurück, obwohl es mir gleichzeitig sehr viel gezeigt und beantwortet hat. Ich habe das Gefühl nochmal nach Indien reisen zu wollen, nur mit mehr Zeit und allein. Nicht sofort und nicht in drei Jahren.
Voraussichtlich hat sich das Land bis zu meinem nächsten Besuch komplett verändert. Die Kasten bröckeln in einigen Regionen schon gewaltig und Frauen laufen immer selbstbewusster über die Straßen. Jedoch öffnet sich das Land auch immer mehr dem westlichen Markt und so könnten viele regionale Händler ihren Job verlieren, weil sie keine Chance im Wettbewerb gegen die globalen Konkurrenten hätten. Indien ist seit kurzem die fünft größte Wirtschaftskraft der Welt. Es bleibt die Frage, ob das Land seine Kraft nutzen kann, um die diskriminierende Klassengesellschaft aufzulösen und der fatalen Korruption Einhalt zu gebieten, oder aber ob sich die Distanz zwischen den Kasten noch weiter vergrößert und am Ende die leiden müssen, deren Leid es jetzt schon weh tut anzusehen.

