Renaissance und Weichkäse
Selbstredend wachte ich vor meinen Gastgeberinnen auf und brach sogleich meinen Kodex, will heißen, ich plünderte die Küche. Gierig wie ein Stier nach der Muleta, habe ich mir also eine gefüllte Wasserflasche genommen, mir ein Glas eingegossen und somit mein innerstes Bedürfnis befriedigt. Ich sah mich um. Die gelbe Küche, belebt von Ölbehältern, Schneidebrettern und Gemüse, war schon jetzt über das Balkonfenster hell erleuchtet. Auf der Straße liefen Kinder, die Besorgungen zu erledigen hatten. Während es mir die Dunkelheit gestern Nacht leicht machte, die Wirklichkeit meiner Anwesenheit in Senegal zu verleugnen, sah ich sie an diesem Morgen ganz klar in jeder Faser der von der Wand abbröckelnden Farbe.
Noch bevor ich meinen Plan für den heutigen Tag gedanklich ausformulieren konnte, setzten sich meine, hoffentlich nicht von meinen Schritten aufgewachten, Gastgeberinnen zu mir an den kleinen, quadratischen Küchentisch. Anna kommt aus Deutschland und studiert Literatur in Leipzig. Zusammen mit Laura, einer Modedesignerin aus den Niederlanden, ist sie einfach mal in Richtung Süden getrampt. An der Straße von Gibraltar, wo damals meine erste Solo-Wanderreise endete, ging es für sie erst richtig los. Sie kauften sich auf der anderen Seite des Meeres, in Marokko, ein Auto und fuhren über Mauretanien bis nach Dakar, wo sich das Paar schließlich sesshaft machte. Laura fertigt Kleidungsstücke an, die sie in ihre Heimat verschickt und Anna organisiert Deutschkurse, die hier mit nicht geringem Interesse nachgefragt werden.
Nachdem wir die obligatorische und dennoch unterhaltsame Vorstellungsrunde hinter uns gebracht hatten, zeigte mir Anna, wie man hier an sein Frühstück kommt. Kleinunternehmer betreiben unweit voneinander Boutiquen, die sich am besten als Krämerläden bezeichnen lassen. Ein Ort, an dem das Lager der Laden ist und man alles das kaufen kann, was das Auge zu erfassen vermag, nicht jedoch ohne ein Stöhnen seitens des Verkäufers, wenn man ausgerechnet die Dose ganz oben im Regal als fehlendes Element in seiner Küche ausgesucht hat. Nun, da ich an der Reihe war, war ich etwas ratlos, was ich überhaupt wollte. Schließlich geht man nicht wie zuhause selbstbestimmt durch die Gänge, sondern richtet dem Verkäufer sogleich aus, was es denn sein mag. Nicht einfach, wenn man noch nicht einmal Zeit hatte das ganze Angebot zu überblicken und hinter einem die Leute warten. Anna, die vor ein paar Monaten wohl in der gleichen Situation war, half mir beim Überblicken des Angebots und lenkte mein Interesse schließlich auf eines der weißen, dünnen Baguettes. Kombiniert mit mildem Weichkäse – es sollte daraus noch eine innige Hassliebe entstehen – war ich froh, etwas gefunden zu haben, dass mir für den Tag Kraft geben würde.
Meine Haustür
Am Küchentisch berichtete ich Laura und Anna dann zum ersten Mal von meinem Plan und fragte sie, so als wenn ihr Urteil noch einen Einfluss auf den Verlauf des nächsten Monats gehabt hätte, über ihre Meinung aus. Ihre erste Reaktion, die etwa lautete: „Du bist ja mutig, wir würden nicht mal in Dakar mit dem Fahrrad fahren“, gepaart mit dem Fakt, dass sie keinerlei Radtour-Erfahrungen in Senegal hatten, ließ mich ratloser zurück als zuvor. Sie fanden aber auch noch aufbauende Worte über die neuen, modernen Straßen und die hohe öffentliche Sicherheit in Senegal, die sie schließlich auch dazu veranlasst hat, sich hier niederzulassen.
Bis ich übermorgen losfahren sollte, hatte ich noch ein paar Erledigungen zu tätigen. Heute stand der Kauf einer SIM-Karte auf dem Tagesplan, um mich auch auf der Reise mit Karten und Infos zur Sicherheitslage in Gebieten wie der Casamance, die ich zu durchqueren gedachte, zu informieren. Der Standort des größten Mobilfunkanbieters Senegals, ein französisches Unternehmen, befand sich eine knappe Stunde zu Fuß entfernt am westlichsten Zipfel Kontinentalafrikas im Bezirk „Ngor“.
Erster Schritt auf die Straße. Ich war noch irgendwo zwischen selbstbewusst und traumatisiert von Indien, wo die Menschen mir ständig das Gefühl gaben, eine Berühmtheit zu sein. In Dakar war das Interesse an meiner Person zu meiner Überraschung nach Verlassen meiner Unterkunft gering, speziell nach Berücksichtigung meiner seit Indien vorhandenen narzisstischen Tendenzen. Glücklicherweise konnte ich hier recht ungestört durch die Straßen stöbern. Ungestört von den Menschen jedenfalls, denn die klebrige Sonne erschwerte es meinem Körper einen Fuß vor den anderen zu bewegen.
Ohne dem großen nassen Fleck auf meinem Rücken zu viel Wert beizumessen, lief ich einige Kilometer, vorbei an sehr vielen bunt gekleideten Menschen, Krämerläden und Kochstuben, an spielenden Kindern, an Pferden und Ziegen. Die Orientierung in einer Stadt ohne klar erkennbare Struktur und standardisierten Ladennamen, sollte uns Menschen, die Einzigartiges besser von Gleichförmigem unterscheiden können, eigentlich leichtfallen. Doch das exotische Gelb der Zitronen, die bunten Muster der Kleider und das Grün der Palmen, alles versank im sandigen, eintönigen Ocker des Straßenbelags, wurde eingewickelt im Schleier der dunkelgrauen Abgase der Autos, die vor dreißig Jahren in Deutschland für nicht mehr verkehrstauglich befunden wurden. Die für leicht geglaubte Fortbewegung entpuppte sich als Konzentrationsaufgabe. An der Hauptstraße angekommen, sah ich jedoch einen unverwechselbaren ersten Orientierungspunkt: Das Monument der afrikanischen Wiedergeburt.
In sozialistischer Manier blickt der heroische Arbeiter, ein Kind auf dem Arm und eine Frau an der Seite, in die Zukunft. Recht überrascht von der freizügigen Darstellung der Charaktere in einem muslimischen Land, beschloss ich spontan dieses Monument zu besichtigen. Das besagte Denkmal, knapp 50 Meter hoch, wirkte auf den Blick noch ein Stück größer, denn es stand auf einem kargen Hügel, der für seine Erklimmung bereits ein moderates Ausdauertraining von mir abverlangte. Oben angekommen, gab es zur Belohnung eine schöne Aussicht auf Dakar und den Atlantischen Ozean. Trotz weitreichender Sicht war die Aussicht aber nicht besonders Instagram-tauglich: Trockene Erde, seltener von Bäumen als von zusammengedrückten Häusern versehen, die die Stadt wie ein einziges Wellblechdach erscheinen ließen und der inaktive Flughafen, an dem ich gedachte anzukommen.
Blick auf den alten Flughafen
Das Innere der Statue erreichte ich über den in den Vulkanfelsen gehauenen Eingang. Mir gefiel dabei das Konzept, dass ich als Tourist einen höheren Preis, als ein Einheimischer zahlen musste. Die unteren Stockwerke der Statue bieten Platz für ein Museum, welches die lange Geschichte der Ethnien Senegals und ihren Kampf in die Unabhängigkeit darstellte. Ich konnte nicht alles verstehen, was der Tourguide in meinem Ohr auf Französisch erzählte, habe aber immerhin erfahren, dass das Monument von einem Senegalesen entworfen und von Nordkoreanern errichtet wurde. Ich hatte genau auf das Gegenteil getippt. Mein Höhepunkt war dann die Fahrt mit dem Fahrstuhl hinein in den Kopf des Mannes, der so heroisch in die weite Ferne blickt. Von hier konnte ich die Stadt noch einmal besser überschauen. Doch meine Aufmerksamkeit beschränkte sich auf einen großen, zehn Meter entfernten Kopf, der den, in dem ich mich gerade befand, skeptisch beäugte. Sicher würde es der Kopf der Frau sein, doch ihre Gesichtszüge, vielleicht lag es an der Porosität der vom Wind abgeriebenen Oberfläche, ließen eher einen männlichen nordkoreanischen Politiker, als eine senegalesische Arbeiterin vermuten.
Im Museum
Dem Koloss entstiegen, setzte ich meine Suche nach einer lokalen SIM-Karte fort. Im Büro des Mobilfunkanbieters angekommen, hieß mich eine auf eine fiese Art wohltuende Klimaanlage willkommen. Dem engen Kontext der Servicestelle geschuldet genügten ein paar Brocken Französisch, um meinen Wunsch zu äußern. Ich geduldete mich für eine gute Stunde im Wartezimmer und spitze meine Ohren, um nicht den Ausruf meines schwer auszusprechenden Nachnamens zu überhören. Kurz nachdem ich ihn dann so klar und deutlich wie nie zuvor ausgesprochen hörte, saß ich einem jungen Mitarbeiter gegenüber, der mir in wenigen Minuten alles Notwendige einrichtete.
Der Pflichtteil des Tages lag nun hinter mir und ich kehrte in meine Unterkunft zurück. Es war schon fortgeschrittener Nachmittag und ich habe mir, in Erwartung der vielen Reisgerichte, denen ich auf der Reise begegnen würde, noch einmal Nudeln mit Tomatensauce gekocht. Der erste Tag nach der Ankunft war also in gewisser Hinsicht erstmal einer zum Reinkommen. Übermorgen würde ich aufbrechen, doch noch brauchte ich den morgigen Tag, um mir Ersatzteile für mein Fahrrad zu kaufen, die ich mir aufgrund von Gewichtsproblemen nicht vor dem Flug kaufen konnte.

